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Die Katholischen Krankenhäuser - Unverzichtbar menschlich

Ausgabe 2 / 04. April 2024

Warum uns jedes Mehr an Bürokratie weh tut

9 min | Teilen auf

Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat den Kliniken weniger Bürokratie versprochen. Dr. Nadine Schmid-Pogarell, Geschäftsführerin des Krankenhauses Barmherzige Brüder in München, unterzieht die Ankündigungen einem Praxistest.

Von Dr. Nadine Schmid-Pogarell, München

Die Zahl der Fachärzte und Pflegekräfte auf Stationen, Komplikationsraten und vieles mehr sollen gemäß Krankenhaustransparenzgesetz leicht öffentlich zugänglich werden. In seiner Bundestagsrede zur 1. Lesung dieses Gesetzes wandte sich Bundesgesundheitsminister Prof. Karl. Lauterbach gegen den Vorwurf wachsender Bürokratie: „Das ist einfach falsch. … Das sind bis auf die Arztdaten alles Routinedaten. Das Traurige ist ja, dass wir die Daten haben, sie aber nie veröffentlicht haben.“

„Wir befürchten, dass es wenig Vernetzung gibt“

Ich muss sagen: Chapeau, Herr Bundesminister, Sie haben völlig recht! Wir erfassen und melden eine Vielzahl von Daten. Was die Empfänger aber daraus generieren, ob und wer untereinander vernetzt ist, wissen wir größtenteils nicht und befürchten, dass es wenig Vernetzung gibt. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Daten doppelt zu dokumentieren und sogar unterschiedlich aufzubereiten sind.

Oft werden ähnliche Ziele verfolgt: So soll mit der PPR (Pflegepersonalregelung) der Pflegepersonalbedarf für die unmittelbare Patientenversorgung im Krankenhaus ermittelt werden. Die PpUGV (Pflegepersonaluntergrenzenverordnung) wiederum erfasst die Qualifikation der Fachkräfte sowie deren Anzahl je Schicht und die Anzahl der jeweils versorgten Patienten.

Wie hoch ist denn nun der Aufwand für Dokumentation?

Nehmen wir unser Krankenhaus: Wir sind mit 405 stationären Betten ein Krankenhaus mittlerer Größe in freigemeinnütziger Trägerschaft. Rund 1.300 Mitarbeitende versorgen jährlich etwa 50.000 Patientinnen und Patienten ambulant und stationär.

Derzeit melden bzw. beantworten wir jährlich etwa 110 standortbezogene Datenabfragen und Statistiken, die sich aus etwa 70 verschiedenen gesetzlichen und sonstigen Vorgaben ergeben, an über 30 verschiedene Adressaten. Der Aufwand dafür liegt bei rund 2.000 Arbeitsstunden pro Jahr, also etwa einer Vollkraft.

Zusätzlich fallen rund 6.500 Arbeitsstunden von Ärzten und Pflegekräften an, z. B. für die tägliche Bettenbelegung (DEMIS), für PpUGV und PPR etc. Das entspricht etwa 3,4 Vollkräften. Nicht enthalten sind Dokumentationspflichten für die Abrechnung stationärer und ambulanter Patienten.

„Allein über die Mindestbesetzung auf pflegerischen Stationen melden wir jährlich etwa 10.000 Datensätze“

Viele der erfassten Daten dienen aber auch dem Nachweis der stationären Behandlungsnotwendigkeit gegenüber dem Medizinischen Dienst im Fall einer Einzelfallprüfung, von denen etwa 50 ganztägige Prüfungen im Jahr bei uns anfallen. Hinzu kommen Strukturprüfungen durch den Medizinischen Dienst, für die für jede Fachkraft jeder Berufsgruppe Qualifikation und Dienstzeiten nachzuweisen sind.

Das Bundesgesundheitsministerium wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die gute Behandlungsqualität den Patienten diene. Aber gerade die Meldungen der PpUGV kosten weitere Zeit genau der Berufsgruppe, die sie eigentlich schützen soll. Allein für diesen Nachweis der Einhaltung einer Mindestbesetzung auf pflegerischen Stationen erfassen und melden wir jährlich etwa 10.000 Datensätze. Verstöße gegen die vorgegebene Besetzung werden mit bis zu 4.000 € monatlich pro Verstoß sanktioniert.

Meldepflichten sind nur die Spitze des Eisbergs

Fällt also im Nachtdienst auf einer größeren Station kurzfristig die zweite Pflegekraft erkrankungsbedingt aus und finden wir keine Fachpflegekraft als Ersatz, wird die Strafzahlung fällig. Was wäre denn die Alternative? Sollen die Patientinnen und Patienten dieser Station um 21 Uhr nach Hause geschickt werden?

Weiterer Aufwand wird folgen, denn die Systematik der PPR ändert sich mit der neuen PPR 2.0. Der aktuelle Erfassungsaufwand liegt bei etwa 5.000 Arbeitsstunden (gleich 2,6 Vollkräfte) durch unsere Pflegekräfte. Nun könnte man sagen, dass sechs bis sieben Vollkräfte bei 1.300 Mitarbeitenden zu verkraften sein sollten. Aber die beschriebenen Meldepflichten sind nur die Spitze des Eisbergs: Zusätzliche personelle Ressourcen fallen für Nachweise zur Qualitätssicherung, für Zentrumszertifizierungen und nicht zuletzt für die digitale Transformation an.

„Derzeit sind wir von einer Zeitersparnis weit entfernt“

Allein der Schulungsaufwand für die Führung der elektronischen Patientenakte beläuft sich pro Pflegekraft auf etwa 15 Stunden und pro Arzt und Ärztin auf etwa acht Stunden. Für unser Haus sind das weitere gut 10.000 Arbeitsstunden, davon 83 % im Pflegedienst und 17 % im Ärztlichen Dienst. Ob sich künftig Zeit sparen lässt, weil die händische Dokumentation entfällt, bleibt abzuwarten. Derzeit sind wir von einer Zeitersparnis weit entfernt.

Die im Rahmen des Krankenhaustransparenzgesetzes neu zu erfassenden Daten der ärztlichen Qualifikationen und Zuordnung zu Fachabteilungen erscheint mit geschätzten 100 Stunden jährlich fast schon trivial. Dabei werden einige der geforderten Informationen bereits an andere Stellen geliefert (zum Beispiel Qualifikationen von Fachpflegekräften zur Verteidigung des Pflegebudgets bei den jährlichen Budgetverhandlungen mit den örtlichen Krankenkassenvertretungen). Diese Angaben werden nun redundant erhoben, vorbereitet und versandt, aber auf Basis unterschiedlicher Datensatzbeschreibungen und in anderem Format.

„Was nutzt all das unseren Patienten?“

Immer häufiger drängt sich die Frage auf: Was nutzt all das unseren Patienten? Was hilft einer allein lebenden 80-jährigen Patientin, die mit einer Oberschenkelhalsfraktur bei uns operiert wurde, im wahrsten Sinne wieder „auf die Beine“ zu kommen? Hilft es ihr, wenn eine Pflegekraft 15 bis 20 % ihrer Dienstzeit am Computer verbringt? Hilft es ihr, wenn Ärzte und Pflegekräfte weniger miteinander sprechen, weil der PC oftmals das primäre Medium zur Kommunikation geworden ist?

All dies mag effizient erscheinen und dient bei Zweifeln der Krankenkasse dem Nachweis der Notwendigkeit der stationären Behandlung. Aber der Patientin hilft es wenig, denn was sie am dringendsten braucht, ist Zeit. Zeit zum Reden und zum Üben, um möglichst schnell wieder allein zu Hause zurechtzukommen – Zeit, die wir im Krankenhaus zunehmend weniger haben.

Krankenhaus Barmherzige Brüder München
Krankenhaus Barmherzige Brüder in München

Ist das alles nicht so schlimm, lieber Herr Bundesgesundheitsminister?
Glauben Sie, die Darstellung ist übertrieben?

Vielleicht sollten Sie hier noch die Einschätzungen unserer Mitarbeitenden lesen:

David Kluiber Stationsleitung 3-1, Chirurgie: „Der zeitliche Aufwand für die Dokumentation in der Pflege es immens groß und immer mehr geworden. Der Aufwand für z.B. Wunddokumentationen oder für PpUGV Dokumentationen ist so groß geworden, dass von 7,7 Stunden durchschnittliche Arbeitszeit meist 1,7 Stunden allein für Dokumentation dahingehen, ein extremer Mehraufwand für Pflege, was weniger Zeit für die Patienten zulässt.“

„Als Pflegekraft fühlt man sich an den PC festgebunden“

Florian Schüssler, Gesundheits- und Krankenpfleger, Station 3-1, Chirurgie: „Die Dokumentation war zwar schon früher sehr aufwändig durch den ganzen Papierkrieg, aber durch die Digitalisierung sind die pflegerischen Dokumentationsaufgaben noch mehr geworden. Wir sitzen jetzt mindestens 1,5 – 2 Stunden am Tag am Computer. Die direkte Kommunikation untereinander bzw. zwischen Ärzten und Pflegekräften ist schlechter geworden. Ärzte schreiben ihre Anweisungen jetzt gleich in den Computer und als Pflegekraft fühlt man sich an den PC festgebunden, weil man sonst nicht auf dem aktuellen Stand ist. Man redet weniger miteinander.“

„Zeit, die wir eigentlich lieber beim Patienten verbringen würden“

Sabrina Hacker, Stationsleitung Station 2-3, Geriatrie: „Der pflegerische Dokumentationsaufwand ist mittlerweile so hoch geworden, weil wir jeden Schritt in der Pflege dokumentieren müssen: was die Pflege macht, was passiert ist, wie viel der Patient gegessen und getrunken hat, ob und welche Art der Hilfe er brauchte. Das nimmt mittlerweile mindestens ein Drittel unserer Schicht ein, Zeit, die wir eigentlich lieber beim Patienten verbringen würden.“

Dr. med. Frauke Wilken, Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie: „Seit meinem Arbeitsbeginn vor 10 Jahren hat die Bürokratie im ärztlichen Alltag deutlich zugenommen. Diese Zeit fehlt am Ende bei der Kommunikation mit dem Patienten. Und dieser sollte ja eigentlich im Mittelpunkt stehen.

„Die bürokratische Flut zermürbt Ärztinnen und Ärzte im Alltag“

Dr. med. Peter Buschner, Oberarzt, Facharzt für Orthopädie u. Unfallchirurgie: „Ohne Bürokratie wird es im Gesundheitswesen nicht gehen. Zurecht sind wir in Deutschland stolz auf unsere hohen Qualitätsstandards. Jedoch zermürbt die bürokratische Flut Ärztinnen und Ärzte im Alltag, weil sie nicht einen großen, sondern den wesentlichen Anteil unserer täglichen Arbeit ausmacht ohne jemals bewiesen zu haben, dass unsere medizinische Arbeit hierdurch entscheidend oder überhaupt an Qualität gewinnt. Je mehr wir uns tagtäglich an ihr abarbeiten, desto weniger wird sie unseren Patientinnen und Patienten zugutekommen, die vor allem eines benötigen: unsere Zeit!“

„Im Medizincontrolling ist die Anzahl der Regulierungsvorschriften kontinuierlich gewachsen“

Dr. med. Michael Schmitz MBA, Leiter Medizincontrolling: „Im Medizincontrolling ist die Anzahl der Regulierungsvorschriften kontinuierlich gewachsen. Der Aufwand für Abrechnungsprüfungen durch MD und Krankenkassen hat sich in den letzten Jahren sehr stark erhöht. Dazu kommen Prüfungen von Qualitäts- und Strukturrichtlinien mit zahlreichen sich überschneidenden Inhalten. Der zunehmende bürokratische Aufwand für Falldialoge, Fallprüfungen, Erörterungsverfahren bindet Ressourcen, die dann bei den originären Aufgaben wie Kodierung und Dokumentation fehlen.“

„Es gibt fast nichts, das wir nicht auswerten müssen“

Arnulf Neumann, Personalleiter Personal, Recht und Soziales: „Der im Krankenhaus erforderliche Aufwand für jegliche statistische Erhebungen für die unterschiedlichsten Bedarfsträger aus unseren Personaldaten ist inzwischen derart hoch, dass wir allein dafür nahezu eine Vollkraft benötigen. Es gibt fast nichts, das wir nicht auswerten müssen, wer mit welcher Ausbildung und welchen Fort- und Weiterbildungen wann wo arbeitet, wie viele Mitarbeitenden mit welchen Qualifikationen zu welchen Zeiten wie viele Patientinnen und Patienten versorgen und wie viel wir jeder dieser Personen zahlen: denn auch für die Vergütung unserer medizinischen Leistungen durch die Kostenträger ist all dies nachzuweisen. Einzig die Farbe der Socken von Fachärztinnen mit Migrationshintergrund im Nachtdienst an Sonntagen mussten wir noch nicht auswerten. Gekürzt wird die Vergütung durch Kostenträger am Ende trotzdem nach Budget – oder nach Belieben. Welcher Ausbildungsbetrieb im Handwerk weist jede einzelne Praxisanleitung, die er seinem Auszubildenden gibt, nach? Von all dem ist keine Stelle besetzt, kein Entgelt bezahlt und kein Mitarbeitender im Unternehmen gehalten. Und über die Qualität der medizinischen Leistungen, die bei unseren Patientinnen und Patienten wirklich ankommt, sagt keine dieser Erhebungen etwas aus.“

„Ich glaube nicht an Bürokratieabbau, denn niemand packt das Thema ernsthaft an“

Susanne Koslowski, Leitung Finanzcontrolling: „Der Bürokratismus im Krankenhaus ist schon lange überbordend. Ich kann mittlerweile nicht mehr nachvollziehen, wer was eigentlich mit all den Daten macht, die wir ständig an unterschiedliche Stellen schicken müssen. Die Regierung spricht von Bürokratieabbau – aber ist das ernst gemeint oder nur vorgeschoben? Ich glaube nicht an Bürokratieabbau, denn niemand packt das Thema ernsthaft an. Die gesetzlichen Regelungen und Vorgaben sind mittlerweile so umfangreich, überschneiden sich und nehmen an Absurdität ständig zu. Selbst ausgewiesene und erfahrene Fachleute tun sich schwer, alles richtig zu verstehen, zu dokumentieren und auch noch den neuen Regelungen nachzukommen. Das hilft erst recht nicht einer zugewandten Patientenversorgung, führt nur zu Misstrauen und niemand ist bereit, die Mehrkosten dafür zu übernehmen.“

Die Autorin des Beitrags Dr. Nadine Schmid-Pogarell ist Geschäftsführerin des Krankenhauses Barmherzige Brüder in München.

Fotos: Krankenhaus Barmherzige Brüder München

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