Ausgabe 3 / 20. Juni 2024
Mit Vorbehaltsaufgaben Pflegekräfte halten und zurückgewinnen
Mehr Berufszufriedenheit und höhere Pflegequalität versprechen sich die Pflegeexpert:innen Helga Nottebohm und Hon.-Prof. Dr. Martin Pohlmann durch Vorbehaltsaufgaben. Die VAPiK-Studie sehen sie als einen Baustein zur Umsetzung in Krankenhäusern.
Wie erklären Sie es, dass gerade die katholischen Krankenhäuser sich so aktiv für die Themen der Pflegekräfte einsetzen?
Helga Nottebohm: Mit den Diskussionen zur Pflegequalität und über Pflegefachkräfte ist die Wertigkeit dieser Profession endlich in die politische Debatte eingezogen. Die zumeist aus Orden entstandenen katholischen Krankenhäuser sind bei diesem Thema Vorreiter, da die Pflege immer ein Ausdruck tätiger Nächstenliebe war – eben Caritas. Diesen Geist der Pflege als einen Dienst am Menschen nennen wir heute Beziehungsarbeit und er zählt zu unserer DNA. Dabei war Pflege stets nicht nur als altruistische Unterordnung, sondern im besten Sinne selbstbewusst. Das haben Ordensschwestern und -brüder immer wieder vorgelebt, wenn sie sich im Sinne der Patient:innen eingesetzt haben.
Worin sehen Sie den besonderen Wert der VAPiK-Studie?
Martin Pohlmann: Die VAPiK-Studie belegt sehr gut den aktuellen Stand der Diskussion um Vorbehaltsaufgaben in der Pflege und legt den Finger auf strukturelle Defizite: Konkret hilft sie uns zu verstehen, wo auf der Makroebene rechtliche Rahmenbedingungen zu klären sind. Auf der Mesoebene gibt sie Impulse für strukturelle Voraussetzungen in Krankenhäusern und auf der Mikroebene bietet sie Anknüpfungspunkte, um im Pflegeprozess die Vorbehaltsaufgaben genauer zu fassen und Strukturen, Abläufe und Zuständigkeiten zuzuordnen.
„Alle Berufsgruppen müssen Hand in Hand arbeiten“
Nottebohm: Die Aufbruchstimmung bei der Präsentation der Studie in Berlin können wir nutzen, um den Ausbau der Vorbehaltsaufgaben auf verschiedenen Ebenen voranzubringen. Neben dem inhaltlichen Diskurs in den Kliniken sollte der Austausch mit den Pflegeschulen und -hochschulen intensiviert werden, da dort das praxistaugliche Wissen um Aufgaben, Zuständigkeiten und Zusammenarbeit vermittelt werden muss. In der Praxis können Akutkrankenhäuser auch viel von guten Einrichtungen der Langzeitpflege lernen, weil dort Vorbehaltsaufgaben schon selbstverständlicher umgesetzt sind. In jedem Fall müssen alle Berufsgruppen Hand in Hand arbeiten.
Herr Pohlmann, Sie verweisen auf den Pflegeprozess. Warum ist der in diesem Kontext so wichtig?
Pohlmann: Der Pflegeprozess wird gemeinhin in mehrere Phasen geteilt: die Anamnese, die Definition der Pflegeziele, die Beschreibungen der Pflegemaßnahmen, ihrer Durchführung und Evaluation sowie die abschließende Anpassung von Zielen und Maßnahmen. Zum einen enthält dieser Regelkreis in sich schon an einigen Stellen Vorbehaltsaufgaben. Zum anderen legt die prozessorientierte Betrachtung offen, an welchen Stellen die Anforderungen etwa bei einer unfallchirurgisch behandelten Person ganz anders sein können als bei einem Schlaganfallpatienten.
Und es lässt sich individuell viel präziser feststellen, ob die Körperpflege bei einem Patienten möglicherweise von einer Assistenzperson oder von einer Fachkraft durchzuführen ist. All das schärft das Pflegeprofil.
Frau Nottebohm, wie können Krankenhausträger diesen Prozess der veränderten Aufgabenverteilung fördern?
Nottebohm: Das oberste Krankenhausmanagement muss ein Klima erzeugen, in dem die verschiedenen Berufsgruppen verpflichtend einen konstruktiven Diskurs auf Augenhöhe führen. Dabei kommen Aufgaben, Verantwortungen und Schnittstellen auf den Tisch. Bisher werden durch Delegation und Allokation Aufgaben von ärztlicher Seite aus übergeben. Die Pflegefachkraft bleibt immer weisungsgebunden, zumal die Delegation jederzeit widerrufen werden kann. Diese Logik beschreibt das heutige Abhängigkeits- und Machtgefälle in vielen Krankenhäusern, das nicht aus der Sache heraus begründet ist.
„Wir müssen die Tanzbereiche neu festlegen“
Viele Mediziner erkennen noch nicht, dass sie Vorbehaltsaufgaben der Pflegenden gar nicht ausüben dürfen und diese auch nicht von den Pflegenden auf die Ärzte delegiert werden können. Hier braucht es ein grundlegendes Neuverständnis. In den Aushandlungen wird dann auch offenbar, wo dem Vorbehaltsrecht derzeit noch andere Regelungen entgegenstehen. Nehmen wir das Schmerzmanagement, bei dem der eher pflegerisch orientierte Expertenstandard mit den eher medizinisch geprägten S3-Leitlinien konkurriert. Wir müssen die Tanzbereiche der verschiedenen Berufsgruppen neu festlegen. Das sollten wir aber nicht als Selbstzweck für Pflegekräfte ansehen, sondern als Hebel zur Steigerung der Pflegequalität und damit der Patient:innensicherheit.
Wie soll auf diesem Weg die Pflegequalität gesteigert werden?
Pohlmann: Aus krankenhausorganisatorischer Sicht sind die Pflegekräfte eine begrenzte Ressource. Die Pflegeteams verfügen über einen Qualifikationsmix. Mit dem geschilderten Vorgehen können wir die einzelnen Kräfte – von der Assistenzkraft über die generalistisch ausgebildete Pflegefachkraft bis zur akademisch aus- und fortgebildeten Fachkraft – viel gezielter einsetzen. Entsprechend müssen die pflegerische und die ärztliche Prozesssteuerung aufeinander abgestimmt sein. Nehmen wir das Entlassmanagement, bei dem ein Patient aus medizinischer Sicht entlassen werden soll, ohne dass aus pflegerischer Sicht die poststationäre Pflege gesichert ist. Was gilt dann? Das ist zu klären.
„Die Pflegeteams verfügen über einen Qualifikationsmix“
Oder nehmen wir Stillberatung, Stomapherapie, Wundmanagement, Diabetes – wir haben qualifizierte Fachexpert:innen für Beratungen. Doch es ist vielfach ungeklärt, bis zu welchem Grad der Pflege Erhebungen, vielleicht auch medizinische Einschätzungen erlaubt sind. Die fachliche Kompetenz der Pflegefachkraft mag gegeben sein, doch berufsrechtlich und haftungsrechtlich tun sich noch Fragen und Probleme auf.
Was muss innerhalb der Berufsgruppe der Pflege passieren, damit die Übernahme der Vorbehaltstätigkeiten gelingt?
Nottebohm: Wir müssen zum Beispiel klären, wie eine Pflegeplanung tatsächlich verbindlichen Charakter erhält, so dass sie nicht beliebig geändert werden kann. Auch müssen wir uns einig werden, bestimmte Tätigkeiten im aktuell medizinischen dominierten Sektor zu übernehmen einschließlich der damit einhergehenden Verantwortung, im diagnostischen Bereich oder bei Verordnungen etwa. Dabei muss nicht jede Pflegekraft in alle Verantwortungsbereiche gehen – dazu haben wir die erwähnten verschiedenen Qualifikationen in dieser Berufsgruppe.
Was erhoffen Sie sich noch von der Durchsetzung der Vorbehaltsaufgaben für die Pflegekräfte?
Pohlmann: Die Neustrukturierung pflegerischer Aufgaben und speziell die Vorbehaltsaufgaben können einen Weg zur Attraktivitätssteigerung des Berufs sein. Und das ist gesellschaftlich relevant: Denn in ihrer Studie „Ich pflege wieder, wenn…“ hat die Hans-Böckler-Stiftung ermittelt, was passieren muss, damit Aussteiger:innen aus der Pflege zurückkommen, oder Teilzeitkräfte zu mehr Arbeitsstunden bereit sind. Neben einer der Qualifikation entsprechenden Vergütung sowie bedarfsgerechter Personalbemessung mit verlässlichen Dienstplänen wurden besonders auch ein Arbeiten auf Augenhöhe mit dem ärztlichen Dienst und eine damit verbundene Anerkennung und Wertschätzung genannt.
Helga Nottebohm ist Pflegeexpertin und war Geschäftsführerin der Katholischen Schule für Pflegeberufe Essen.
Hon.-Prof. Dr. Martin Pohlmann leitet die AG Kath. Krankenhäuser im Landes-Caritasverband für Oldenburg und ist Honorarprofessor für Pflegewissenschaft an der Hochschule Osnabrück. Beide sind zudem Mitglieder im Vorstand des Katholischen Krankenhausverbands Deutschland.
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